Mußestunde No. 23

Träumen oder leben?

(Kurz vorneweg: Ich habe diese Mußestunde schon vor einer Woche geschrieben, als noch kein Krieg in der Ukraine war. Nach dem Angriff Russlands gestern war ich wirklich geschockt. Ich habe darüber nachgedacht, diese Mußestunde umzuschreiben. Denn wie kann man über Lebensträume nachdenken, wenn so viele andere Menschen um ihr Leben bangen müssen? Dann aber habe ich einen Post von Greenpeace gesehen. Darin stand:
”Peace, not war.
Creativity, not destruction.
Empathy, not hate.
Generosity, not greed.
Everybody, not just us.”
Gut. Ich werde also weiter von einem freien und kreativen Leben träumen. Ich hoffe, ihr auch.)

Vor Kurzem hatte ich eine längere Unterhaltung mit einem Auftraggeber über langes Arbeiten. Nein, er wollte mir dabei nicht erklären, dass ich gefälligst lange oder viel für ihn zu arbeiten habe (glücklicherweise ist das ein sehr respektvoller und sympathischer Auftraggeber). Sondern: Er wollte mir erklären, warum er so viel arbeitet. Also wirklich viel, mindestens sechs Tage die Woche.

Denn das ist etwas, was ich wirklich schwer verstehen kann. Schon immer, eigentlich. Ich sehe aber viele andere Leute um mich herum, Kolleg*innen, Freund*innen, die sich abrackern, Tag für Tag, Woche für Woche. Sie sagen, locker 50, 60, manchmal auch 70 Stunden pro Woche. (Wie kann das überhaupt gehen, frage ich mich? Das müssen ja entweder 10 Stunden pro Tag ohne einen freien Tag sein oder 11,6 Stunden pro Tag mit einem freien Sonntag oder aber 14 Sunden pro Tag mit einem freien Wochenende - das heißt, von acht Uhr morgens bis 22 Uhr abends. Ohne eine Sekunde Pause! Hä? Also: Mit konzentrierter oder gar effektiver Arbeit kann das nun wirklich nichts mehr zu tun haben. Aber egal.)

Der Punkt dabei ist: Sie arbeiten und arbeiten, meist als Angestellte, also auch noch dafür, dass andere Menschen daran verdienen. Und ich frage mich dann: Für was denn?

Gut, wenn man sehr arm ist und mehrere Jobs braucht, um die Familie über Wasser zu halten, dann geht es nicht anders, das ist mir klar. Oder wenn man etwa Ärztin oder Pfleger im Krankenhaus ist und gerade mitten in der Corona-Pandemie, dann muss man auch viel arbeiten, das ist mir auch klar. (Obwohl ich das sowieso kritisch sehe, wenn Menschen aufgrund ihrer sozialen Einstellung oder ihres sozialen Status ausgebeutet werden.)

Mir geht es aber heute um die Menschen, die weder von Armut bedroht sind noch bei ihrer Arbeit Leben retten. Sondern: Die einfach so arbeiten. Die einfach so viel arbeiten.

Das war jetzt ein bisschen fies formuliert, gell? War aber Absicht. Denn manchmal kommt es mir so vor, als hätten viele Menschen das Gefühl, dass ihre Arbeit geanu so wichtig ist wie die eines Chirurgs auf der Notaufnahme. (Spoiler: Ist sie aber nicht.)

Nun, jetzt sagen einige von Euch vielleicht: Ich liebe meine Arbeit, ich bin dann voll im Flow, ich kann gar nicht anders, als viel zu arbeiten! Gut, das sehe ich ein. (Trotzdem ist es auch da eine ziemlich schmale Gratwanderung zwischen Spaß und Sucht, fürchte ich.)

Es gibt aber sehr viele Menschen in meinem Umfeld, die ihre Arbeit gar nicht so geil finden. Eher anstrengend. Die von ihr genervt sind, gar gestresst. Und die trotzdem so viel arbeiten.

Und genau darüber haben mein Auftraggeber und ich geredet.

So ganz genau konnte er mir ehrlich gesagt nicht erklären, warum er so viel arbeitet. Er meinte, zum Beispiel für das Geld.

Also erwiderte ich: Ja, okay, klar. Aber wenn Menschen so viel arbeiten, dann häufen sie als Angestellte Überstunden an, die sie dann als Urlaub oder als Gehalt ausgezahlt bekommen; und als Selbstständige haben Sie irgendwann einmal - hoffentlich - sehr viel Geld verdient. (Alles ganz grob und theoretisch jetzt.) Ich aber kenne kaum jemanden, der oder die sich plötzlich ein paar Monate frei nimmt, oder sich auf eine Weltreise aufmacht, oder sich welchen großen Traum auch immer verwirklicht.

Also sagte ich: “Und dann verstehe ich gar nicht, warum diese Menschen so viel arbeiten und so viel Geld anhäufen, wenn sie dann gar nichts davon haben.”

Er sagte: “Nun, manchmal ist es einfach schöner, einen Traum zu haben, den man sich ganz theoretisch erfüllen könnte, als ihn wirklich zu erfüllen.”

Ich: “Wie?”

Er: “Na, wenn ich viel Geld angehäuft habe, dann weiß ich: Theoretisch kann ich jetzt ein paar Monate frei nehmen und um die Welt reisen. Aber wenn ich das wirklich mache, wenn ich rund um die Welt reise, und dann wieder zurückkehre, dann bin ich wieder im selben Job, muss wieder genau so viel arbeiten wir vorher und habe kein Geld mehr auf der Seite, und keinen Traum mehr, den ich mir damit theoretisch irgendwann mal erfüllen könnte.”

Ich: “…”

Denn das ist so traurig.

Und ja, ich verstehe natürlich, warum man Träume hat. Und ich verstehe auch, dass es unterschiedliche Träume gibt. Es gibt solche, die eventuell hoffentlich mal erfüllt werden (etwa: auf einem Pferd reiten, ein Buch schreiben, die Weltreise), und solche, die ziemlich wahrscheinlich nicht erfüllt werden (etwa: Weltmeisterin im Dressurreiten werden, den Nobelpreis gewinnen, auf den Mars fliegen). Aber wieso sollte man sich selbst die realistischen Träume, diejenigen, die man sich erfüllen kann, freiwillig nicht erfüllen?

Klar, damit bewahrt man sich auch vor einer Enttäuschung. Denn was, wenn das Reiten auf einem Pferd gar nicht so viel Spaß macht, wie man es erwartet hätte? Das selbstgeschriebene Buch einfach schlecht? Die Weltreise einfach nur anstrengend?

Tja, was soll ich sagen: Das ist das Leben!

Wenn man sich niemals traut, etwas zu tun, das man eigentlich gern tun würde, nur, weil man Angst hat, dass es doch nicht so toll ist wie gedacht, nimmt man sich auch die Möglichkeit, dass es noch viel besser ist als gedacht. Es kann doch genau so gut sein, dass das Reiten die absolute neue Leidenschaft wird. Dass das Schreiben des Buchs einem plötzlich eine Last von der Seele genommen hat. Dass die Weltreise so unglaublich schön ist, dass man bis ans Ende seiner Tage davon zerrt.

Damit aber kommen wir zurück zu seinem Argument: Dass sein Leben angenehmer ist, wenn es so dahin läuft, aber stets ein kleines Licht am Ende des Tunnels bunt aufleuchtet (die Weltreise) - als wenn er kurz aus seinem Alltag auftaucht, einen echten Höhepunkt erlebt (die Weltreise), und dann wieder in das normale Leben zurückkehrt.

Doch das ist so, als ob man in einer grauen Welt ohne Freude lebt, und man sich einen bunten Traum erhalten muss, damit man überhaupt noch Hoffnung hat, damit man irgendetwas hat, woran man sich festhalten kann.

Ist das nicht schrecklich?

(Ich dramatisiere das Ganze jetzt, um meinen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen - in Wirklichkeit wirkt der Mann wie ein relativ zufriedener Mensch, keine Angst.)

Doch meine Argumente sind gut. Sie lauten: Das tun, was man will. Das Leben führen, von dem man träumt. Denn vielleicht geht es gar nicht darum, sich diesen einen großen Traum, zu erfüllen, diese eine Weltreise zu machen. Vielleicht geht es eher darum, das eigene Leben so zu ändern, dass man vor der Rückkehr von der Weltreise keine Angst mehr haben muss.

Wisst ihr noch, was Vonnegut über uns Menschen gesagt hat? Dass wir uns so gerne bewegen? Ich habe sein Zitat mal etwas abgewandelt. (Ich hoffe, er würde das so auch absegnen.)

“What the business people don’t realize, or they don’t care, is: We’re living animals.
You know, we love to live.
And it’s like we’re not supposed to live at all anymore.“

Wir aber wollen nicht nur träumen. Sondern leben.

Wie das geht? Nun, das ist eine andere Geschichte und soll ein ander Mal erzählt werden. (Und außerdem muss ich mir dazu vorher noch gehörig Gedanken machen.)

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Den Traum vom eigenen Buch schreiben (den auch ich weiterhin träume) hat zum Beispiel ein sehr guter Freund von mir verwriklicht. Und nicht nur einmal - sondern mittlerweile viermal. (Wahnsinn!)
Ja, gerade eben hat er sein viertes Buch veröffentlicht. (Er würde wahrscheinlich sagen, sein drittes, weil er sein Erstlingswerk gerne unter den Tisch fallen lässt. Es war ein Liebesroman. Ich fand ihn übrigens ganz wunderbar.) Er aber ist seitdem zu wichtigeren Themen übergegangen, erst Mord, dann Korruption - und jetzt Fußball. “Jahrhundertweltmeisterschaft” heißt das neue Buch, und ich empfehle es allen Menschen, die zwar echte Fußballfans sind, aber dieses Jahr nicht so genau wissen, was sie nun tun sollen, da zwar eine Weltmeisterschaft ansteht, die man aber aus Gründen der Menschlichkeit leider erstens einfach nicht gut heißen und zweitens deshalb vermutlich auch nicht anschauen kann. (Also fast allen.) Anstatt also in ein großes Fußball-Loch zu fallen, lautet meine Alternative: Flos Buch lesen. In tiefem Fußballwissen waten. Sich etwas wundern. Und vor allem: sehr viel lachen.

Übrigens brauchen nicht alle Menschen so lange wie ich, oder der Flo, um sich den Lebenstraum vom eigenen Buch zu erfüllen. Zum Beispiel: Dillon Helbig aus Idaho, USA. Er ist acht Jahre alt, und er hat schon ein Buch geschrieben, und es illustriert, und es veröffentlicht. Auf etwas ungewöhnlichem Wege, aber: sowas von erfolgreich. Denn dieser gewiefte Nachwuchs-Schriftsteller hat sein Erstlingswerk einfach in die Gemeindebücherei geschmuggelt und es in ein Kinderbuch-Regal gestellt. Offenbar nicht zu versteckt, denn die Bücherei-Mitarbeiter haben es realtiv schnell gefunden. Als Dillon seiner Mutter zwei Tage später von der Aktion erzählte, ging sie mit ihm in die Bücherei, um das Buch zu holen, damit es nicht weggeworfen werde. Doch davon wollten die Mitarbeiter gar nichts wissen. Sie hatten es bereits gelesen - und waren begeistert. Nun hat Dillons Buch nicht nur einen offiziellen Platz und einen echten Bücherei-Barcode erhalten, es hat auch schon eine ellenlange Warteliste.

Es heißt übrigens “The Adventures of Dillon Helbig’s Crismis”, von “Dillon His Self” und handelt davon, wie ein Junge namens Dillon einen Stern auf einen Weihnachtsbaum steckt, der explodiert und der Junge so durch die Zeit katapultiert wird. (Mehr verrate ich hier nicht. Aber viel mehr weiß ich auch ehrlich gesagt nicht.)

Dillon ist übrigens ziemlich stolz auf sein Werk und dessen Rezeption. Mittlerweile schreibt er an einem Sequel, darin soll auch sein Hund Rusty vorkommen. Außerdem hat er noch eine Idee zu einem völlig neuen Roman, über einen Kleiderschrank, der Jacken frisst.

Was soll ich sagen: Coolster Typ ever, dieser Dillon.