Mußestunde

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Mußestunde No. 24
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Mußestunde No. 24

Über die Hoffnung.

Nina Praun
Mar 11
2
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(Das Foto ist aus dem Film “Licorice Pizza” und wird weiter unten erklärt.)


Die Welt hat sich verändert. Wieder so plötzlich. Gerade noch haben wir diejenigen bemitleidet, die eine schwere Coronaerkrankung erleiden mussten, diejenigen beweint, die daran starben, mit denjenigen gelitten, die zurück blieben. Gleichzeitig haben auch alle anderen gelitten, unter Existenzangst, dem Eingesperrtsein, dem Frust, der Langeweile. Wir alle fühlten uns hilflos. Irgendwie ausgeliefert.

Und von einem Tag auf den anderen war alles anders. Plötzlich sehen wir, unter Schock, wie die Ukrainer leiden müssen - unter einem ganz anderen Schicksal. Sie leiden nicht unter einer Krankheit, die willkürlich Menschen befällt, sondern unter einem anderen Menschen, der ganz gezielt Menschen angreift. Das ist so schlimm. So furchtbar. So unerbittlich. Wir leiden mit, weinen mit, zittern mit.

Wieder fühlen wir uns hilflos. Doch dieses Mal wollen wir helfen. Und wir tun es, viele von uns. Manche mit Geldspenden, andere mit Sachspenden, manche mit ihrer Zeit, andere mit ihrem Wohnraum. Manche trauen sich gar, bis zur ukrainischen Grenze zu fahren und dort direkt zu helfen. Wenn ich an diese mutigen Menschen denke, muss ich auch weinen - aber nicht vor Trauer, sondern vor Bewunderung, Stolz, Respekt, und: Freude. Denn dann bin ich froh, so froh darüber, dass es so viele gute Menschen auf der Welt gibt.

Und das gibt mir Hoffnung.

Denn die Welt, die Natur an sich ist sowieso unglaublich, wunderbar, genial, bewundernswert - das ist ja klar. Nur: an der Menschheit habe ich so manchmal meine Zweifel.

Doch dann betrachte ich die Menschen. Und dann sehe ich, wie unglaublich auch sie sind. Nicht nur jetzt, in diesen schrecklichen Zeiten. Auch sonst.

Zum Beispiel war ich neulich in einer Boulderhalle. (Ich habe diese Sportart gerade erst entdeckt, und sie macht mir wahnsinnig viel Spaß.) Da stehe ich also, vor hohen Wänden, an die viele bunte Knubbel geschraubt wurden, und beobachte Menschen, wie sie daran auf- und abklettern. Es passen nicht alle Menschen, die in der Halle sind, gleichzeitig an diese Wände. Also muss man warten. Man wartet, bis ein anderer Kletterer fertig ist, und dann vielleicht noch, dass eine andere Kletterin fertig ist, und dann vielleicht nochmal, weil noch jemand anders klettert. Doch das tun tatsächlich alle: Sie warten. Geduldig. Sie nehmen Rücksicht, sie sind höflich, sie lassen wildfremde Menschen vor. Es gibt keinen Ärger, keinen Streit, keine Ellbogen werden ausgefahren.

Ist das nicht faszinierend?

Dann sitze ich in der S-Bahn. Sehr viele Menschen sind in einem ziemlich kleinen Raum zusammen. Es ist ruhig. Manche Menschen lesen, andere telefonieren, andere starren auf ihr Handy. Manche sehen aus dem Fenster. Andere reden miteinander. Einer lacht. Ein Baby gluckst. Alle sind friedlich.

Ist das nicht faszinierend?

Dann stehe ich an einer Kreuzung. Der Verkehr fließt, ganz ohne Störung. Die Autos fahren erst dann los, wenn die Ampel grün ist. Die Linksabbieger warten, bis kein Gegenverkehr mehr kommt. Die Radfahrer weichen sich gegenseitig aus, die Fußgänger schreiten entspannt über die Straße. Alle Beteiligten halten sich an Regeln, die vor vielen Jahrzehnten von wemauchimmer beschlossen wurden - und sie vertrauen darauf, dass das alle anderen auch machen.

Ist das nicht faszinierend?

Dann bin ich beim Supermarkt. Vor mir ist eine alte Dame, die ihre drei Einkäufe exakt bezahlen will, mit sehr kleinem Kleingeld. Sie kramt in ihrem Portemonnaie herum. Die Verkäuferin sagt: “Geben Sie es mir”, die alte Dame reicht ihr den Geldbeutel, die Verkäuferin holt sich den Betrag aus dem Kleingeldfach heraus und gibt den Geldbeutel zurück. Sie lächelt, die alte Dame lächelt. (So sieht es jedenfalls aus, unter den Masken.) Niemand hat Angst, dass diese alte Dame gerade beklaut wurde.

Ist das nicht faszinierend?

Nun werden die einen oder anderen Pessimisten unter euch sagen: So ein Schmarrn! In Wirklichkeit gibt es ständig Streit in der Boulderhalle, es gibt überall Unfälle, in der S-Bahn wurden schon Menschen getötet, und natürlich werden alte Menschen beklaut.

Doch ich sage: Ja, schon. Natürlich gibt es Ärger und Streit und Unfälle; und es gibt anstrengende Menschen und kriminelle Menschen und wirklich böse Menschen.

Doch: Das ist die Ausnahme.

Die Regel sind Menschen, die gut sind. Nett. Mutig. Freundlich. Die mal einen schlechten Tag haben, aber keine schlechten Menschen sind.

Das ist die Regel. Das ist die Mehrheit. Das sind wir.

Und ja, auch ich vergesse das immer wieder mal. Dann denke ich: Alle sind bescheuert! Alle sind egoistisch! Alle sind dumm!

Dann aber lächelt jemand jemanden an. Dann sagt jemand freundlich hallo. Dann hebt jemand etwas auf, das jemand anderem heruntergefallen ist. Dann lässt jemand jemand anderen an der Kasse vor, weil diejenige es eilig hat.

Dann sehe ich, wie viele Menschen jetzt helfen wollen.

Und dann habe ich wieder Hoffnung. In uns.


So, ich hoffe, das war jetzt nicht einen Ticken zu schwer - schließlich ist so Vieles zur Zeit schon so schwer. Deshalb mach ich es jetzt noch ein wenig leichter, mit: Licorice Pizza! (Siehe das Foto ganz oben.)

Dieser Film läuft derzeit (noch) in vielen guten Kinos, und wer Lust auf Ablenkung hat, der sollte da ganz unbedingt hineingehen. Oder, nein: Wer Lust hat, einen Film zu sehen, der einem das Gefühl gibt, es lohnt sich, zu leben, der sollte da hineingehen.

Es ist ein Film über einen Jungen und ein Mädchen; mitten in den 70ern, am Rande von Los Angeles. Die beiden sind so wild und so frei und so verrückt und so nett und so bescheuert, dass man einfach nicht anders kann, als ein ganz starkes Sehnsuchtsgefühl zu bekommen - nach einem “früher”, als alles noch so einfach war und man nur rumhing und trotzdem immer was passierte. Ein schönes Sehnsuchtsgefühl, übrigens. Auch ein Freiheitsgefühl. Und ein Gefühl, dass einem sagt, dass man sich mal wieder erlauben sollte, irgendwo rumzuhängen. Damit einem auch mal wieder was passiert.

Braucht es noch mehr Argumente? Gut: Hauptdarsteller sind der Sohn von Philip Seymour Hoffman und das jüngste Mitglied der ziemlich coolen Band “Haim”, und beide sind sensationell. So sensationell, dass es vollkommen unerheblich ist, dass auch noch Bradley Cooper, Sean Penn und Tom Waits mitspielen.

Und das muss jetzt reichen.

(Übrigens heißt “Licorice Pizza” zwar direkt übersetzt “Lakritzpizza”, bedeutet aber “Vinylschallplatte”. Das wusste ich aber nicht, als ich den Film ansah - und es tut auch wirklich nichts zur Sache.)

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