Mußestunde

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Mußestunde No. 28
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Mußestunde No. 28

Über die Erinnerung.

Nina Praun
May 6
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Der Long Room in der Old Library im Trinity College in Dublin. Foto: Diliff/Wiki

Letzte Woche habe ich in der Zeit einen Artikel über unser Gedächtnis gelesen. (Hier ist er.) War super interessant. Meine Erkenntnisse daraus lauten:

  1. Alles, was wir jemals erlebt haben, ist in unserem Gedächtnis abgelegt worden. Wenn wir uns nicht mehr daran erinnern, finden wir einfach nur den Zugang dazu nicht mehr.

  2. Wenn wir uns aber an etwas erinnern, wenn wir also ein Erlebnis hervorziehen, dann verändern wir es sofort. Schon in dem Augenblick, in dem wir es hervorkramen. Es gibt also keine einzige Erinnerung, an die wir denken, die nicht irgendwie von uns selbst verändert wurde; die also anders ist das, was in Wirklichkeit passiert ist.

  3. Also: Traue keiner Erinnerung, die Du nicht selbst gefälscht hast.

(Was im Endeffekt eigentlich bedeuten müsste, dass ihr meinen Erkenntnissen aus dem Artikel auch nicht trauen solltet, denn schließlich ist es schon ein paar Tage her, dass ich den Artikel gelesen habe… Aber egal jetzt.)

Ist das nicht irre?

Ich stelle mir das so vor: Unser Gehirn ist eine riesige Bibliothek, mit Regalen bis hoch zur Decke, die über verschlungene Wege weit, weit nach hinten in die immer dunkler werdenden Ecken reichen. In der Mitte ist alles perfekt geordnet. Dort stehen wunderschöne Notizbücher in Reih und Glied sauber nebeneinander; man sieht, dass sie genau da stehen, wo sie hingehören. (Es sieht also in etwas so aus wie das Bild oben. Jedenfalls wäre es schön, wenn es so aussähe, finde ich.)

Doch je weiter man sich von der Mitte weg bewegt, desto chaotischer wird das Ganze: Windschiefe Regale, allesamt vollgestopft mit kleinen Mappen, die von alten Notizzetteln nur so überquellen, Schachteln voller vergilbter Fotos und verwackelter Videos.

Und mittendrin sitzt eine winzigkleine Bibliothekarin vor einem riesengroßen Schreibtisch, auf dem viele kleine Karteikästchen stehen, aus denen verknickte Kärtchen herausquellen.

Plötzlich denke ich - wenn wir jetzt davon ausgehen, dass wir gerade in meinem Gehirn, also meiner Bibliothek, sind -, also ganz plötzlich denke ich: “Moment mal, wann war ich eigentlich das letzte Mal in Salzburg?”

Sofort springt die kleine Bibliothekarin auf und läuft zu einer Ecke des Schreibtischs, an dem ein Zettel mit der Aufschrift “Ausflüge” klebt. “Salzburg, Salzburg, Salzburg…” murmelt sie vor sich hin. Sie stellt ein Karteikästchen auf das andere, zieht kleinere hervor, stapelt größere übereinander, und hat schließlich, ha!, das Kästchen mit dem Aufkleber “Salzburg” vor sich stehen. Panisch blättert sie darin herum. Nein, heute geht es nicht um diesen strengen Mann im Mirabellgarten, der laut geschimpft hat, weil ich mich kurz für ein Foto in die Wiese gehockt habe; nein, es geht auch nicht um das Museum Haus der Natur, in dem ich das erste Mal einen riesigen Dinosaurier gesehen habe; nein, es geht nicht um diese gediegene alte Oma-Café, in dem wir bei jedem Ausflug als Familie saßen, Kuchen aßen und aus dem Fenster auf die Salzach schauten; nein, es geht auch nicht um jenen Tag, als ich als Teenie mit Freunden auf dem Weg nach Hause aus dem Italienurlaub am Salzburger Bahnhof mit dem italienischen Zug ein wenig zu spät eingetroffen war und wir dann etwas gestresst und recht spontan in den falschen Zug umgestiegen sind…. Sondern, ja, es geht um das letzte Mal, als ich in Salzburg war: Mit meinem Freund! Als wir über Nacht in einem Hotel blieben.

Puh, ja das war’s, freut sich die Bibliothekarin.

Ich aber denke: “Und was haben wir da genau gemacht?”

Die Bibliothekarin seufzt. Sie nimmt die Karteikarte heraus. Darauf steht: Regal S6, Fach 128, Notizblock 18. Mit einer Taschenlampe in der Hand zieht sie los, rüber in den Ostflügel, die Stufen runter, links durch die Tür in den Abschnitt S. Sie läuft zum Regal 6 und spaziert eine ganze Weile daran entlang, bis zum Fach 128. Sie blickt hinein, da liegt der Notizblock 18, zieht ihn heraus, und - zack - fallen jede Menge lose Blätter heraus.

Mist. Denkt sich die Bibliothekarin. Sie bückt sich, sammelt die Blätter wieder zusammen und sieht schon jetzt: Schönes Geschmiere. Hm.

Sie bringt die Mappe nach vorne zum großen Schreibtisch, setzt sich in den Lehnstuhl und wühlt ein wenig in den Zetteln herum. “Kneipe”, kann sie da auf einem entziffern. Das würde passen… Sie versucht, weiter zu lesen. “Keller”, kann sie entziffern. Und “Musik”, wahrscheinlich. “Er ist lab, der schon” steht dann da, oder: “Es ist laut, aber schön”? Wohl eher.

Die Bibliothekarin atmet einmal tief durch, zieht ein schönes neues Notizheft hervor und beginnt, fein säuberlich hinein zu schreiben. “Salzburg”, schreibt sie, “beim letzten Mal”. Sie richtet sich kurz auf, atmet tief durch und schreibt los. “Wir sind in einer Kneipe, einer echten Salzburger Kneipe, tief unten in einem Keller. Darin ist es laut, aber sehr schön, gemütlich. Die Musik ist ein bisschen wild. Alle trinken Bier, lachen und tanzen. Wir auch. Wir lachen und reden und tanzen und lachen wieder.”

Zufrieden lehnt sie sich zurück. Ja, so könnte es in etwa gewesen sein.

Zufrieden lehne auch ich mich zurück. Ja, so war es.

Genau so.

Die Bibliothekarin klappt das neue Notizbuch wieder zu. Sie klebt einen gelbes Etikett ganz unten auf den Buchrücken und schreibt darauf: S6/F128/N18 - NEU: Ausflüge/Sa. Dann vermerkt sie die neue Nummer auf dem alten Karteikärtchen. Sie steht auf und geht zu dem großen Regal am Ende des Saals, steigt eine kleine Trittleiter hinauf bis zum Fach namens “Ausflüge” und stellt das neue Notizbuch neben all die anderen hübschen Büchlein, alle versehen mit gelben Etiketten.

Sie steigt die Leiter wieder hinab, geht zum Schreibtisch, klaubt die vergilbten Zettel zusammen, steckt sie in die alte Mappe hinein und macht sich auf den Weg in Richtung Ostflügel. Kurz bevor sie die Stufen hinunter geht, bleibt sie stehen. In der rechten Wand ist eine kleine Klappe eingelassen. “Altpapier” steht darüber. Die Bibliothekarin öffnet die Klappe und stopft die Mappe hinein.

Wieder etwas mehr Ordnung geschaffen, denkt sie zufrieden.

Und nun eine Tasse Tee.


So können also gedankliche Erinnerungen gefälscht werden…
Doch auch bildliche Darstellungen werden verfälscht. Etwa im Falle unserer Weltkarte. Die Welt ist nun mal eine Kugel, und somit wird es immer etwas verquer, wenn man sie flach auf einer Karte darstellen will. So auch bei der klassischen Weltkarte, die wir alle kennen, vermutlich aus dem Klassenzimmer oder dem Schulatlas. Natürlich kann man nichts dagegen machen; egal, wie man die Welt darstellen will, es ist immer nicht ganz realitätsnah (außer auf einem Globus, natürlich). Nur: Auf unser klassischen Weltkarte kommen leider die Länder auf der Nordhalbkugel flächenmäßig viel besser weg als die Länder am Äquator. Das ist jetzt schwer zu erklären, da ich keine Ahnung von solchen Berechnungen habe, aber: Auf einer Website kann man das gut nachvollziehen.

Nämlich auf der Website “The True Size Of…”. Dort kann man die Länder auf der Weltkarte herumschieben, und sie verändern sich von der Größe her so, dass sie direkt vergleichbar werden. Zum Beispiel wirken Russland und die USA sehr, sehr groß - doch wenn man sie auf den afrikanischen Kontinent verschiebt, verlieren sie plötzlich ganz schön an Fläche. Etwa so:

Oder probiert es doch einfach mal selbst aus: hier.

Viel Spaß dabei!

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